Bereits im vorangehenden Artikel mit einem Faktencheck zum Priestermangel konnte gezeigt werden, wie wenig aufgrund der Datenbasis von einem Priestermangel geredet werden kann. Folgende vier Thesen versuchen das Phänomen „Priestermangel“ deshalb anders zu erklären:
1. Eine Systemabschottung fördert Egozentrismus und Konsumdenken.
Die fehlende missionarische Ausrichtung der Kirche und der Gemeinden – also die bewusste Störung einer Systemabschottung – haben ein um sich selbst kreisendes Konsumdenken hoffähig gemacht. Dies diagnostizieren nicht nur Thomas Frings, sondern auch die Autoren der Bücher Rebuilt und Divine Renovation (Michael White und James Mallon), welche in den USA und Kanada wachsende, fruchtbare Gemeinden aufgebaut haben. Der mit der Systemabschottung einhergehende individuelle oder organisatorische Egozentrismus fördert das Konsum- und Versorgungsdenken immer weiter. Schließlich möchte eine Gemeinde allein für und aus sich selbst leben. „Fremde“ werden wie bei einem menschlichen Immunsystem abgewehrt. Eine missionarisch notwendige Willkommenskultur hat keine Chance und ein geistlich unfruchtbarer Teufelskreis in den Abgrund beginnt.
Sie glauben es nicht? Probieren Sie es selbst aus und gehen Sie in eine Gemeinde, die sie nicht kennen. Werden Sie dort so willkommen geheißen, dass sie gerne bleiben möchten? Oder werden Sie ignoriert? Wann haben Sie selbst oder Bekannte zuletzt einmal andere Menschen guten Gewissens in ihre Gemeinde eingeladen? Ist es dann verwunderlich, dass viele Menschen keinen weiten Weg zu einem Gottesdienst auf sich nehmen wollen, wenn sie nach langer Reise dort völlig ignoriert und als Fremdkörper wahrgenommen werden?
2. Der immer größere Personalschlüssel Priester und Hauptamtliche zu Gläubige schadet dem gemeinsamen Priestertum, fördert Klerikalismus und Funktionalismus.
Seit nachweislich sechs Jahrzehnten gibt es immer mehr Personalressourcen pro „aktivem“ Gläubigen. Immer mehr Hauptamtliche nehmen den zum gemeinsamen Priestertum Berufenen ihre ihnen eigenen Aufgabe weg: missionarisch in der Welt tätig zu sein. Dies hat zu einer Entmündigung des gemeinsamen Priestertums geführt – und damit zur geistlichen Unfruchtbarkeit. Ein Indiz für diese geistliche Unfruchtbarkeit sind die fehlenden geistlichen Berufungen. Sie orientieren sich einfach an der Anzahl von Gläubigen, die ihren Glauben freudig, aktiv und ernst leben. Oder ist es nur ein Zufall, dass Länder in Afrika, Südamerika und Asien, in denen es weniger Hauptamtliche pro Gläubige gibt, so viel fruchtbarer als Nordamerika und Europa sind, obwohl dort viel mehr Hauptamtliche die Gläubigen unterstützen?
3. Die Geringschätzungskultur verhindert geistliche Berufungen.
In der Tradition der Kirche wird zur Verdeutlichung der Beziehung zwischen Priester und Kirche oft das Bild einer Verlobung verwendet: „Die Kirche als Braut Jesu Christi will vom Priester mit der Vollständigkeit und Ausschließlichkeit geliebt werden, mit der Jesus Christus, das Haupt und der Bräutigam, sie geliebt hat.“ (Pastores dabo vobis 29) Nun ist es so, dass sowohl diverse Petitionen, als auch Bischöfe mit einer „Diskussion über viri probati“ diese wesentliche Beziehungsdimension in ihrer Ausschließlichkeit in Frage stellen und somit das Herz des priesterlichen Wesens angreifen. Sind das Zeichen einer Kultur, die eine Wertschätzung für Priester und priesterliche Berufungen und ihre innigst verbundene Lebensform ausdrückt? Wie würde ein normaler Mensch auf eine solche Nicht-Akzeptanz seines/seiner Verlobten reagieren? Warum sollte man sich für ein Leben im Dienst der Kirche entscheiden, wenn dieser das Zeichen der Hingabe gleichgültig oder sogar störend ist? Auch hier schlägt im Hintergrund wieder der Konsumismus und Funktionalismus zu, der das Beziehungsgeschehen zwischen Priester und Kirche zerstört. Der Priester wird nur noch als austauschbarer Dienstleister wahrgenommen. Als freiwillige Form der Selbstausbeutung ist der Zölibat vom Konsumenten gerne gesehen, aber bloß nicht auf Kosten des Gesamtangebotes!
4. Der Sündenbock – psychologische Ursachen.
Als letztes sollen psychologische Ursachen genannt werden. Chris Argyris, Mitbegründer der Organisationsentwicklung, hat hier ein den Begriff der defensiven Routinen geprägt. Da ein wirklicher, langwieriger Kulturveränderungsprozess in Richtung Neuevangelisierung anstrengend ist und in dessen Zug auch die schmerzlich lange Zeit der fehlenden Evangelisierungstätigkeit thematisiert werden müsste, werden andere Erklärungen vorgeschoben und Symptomlinderungsmaßnahmen gefordert. Das Ärgernis des Zölibates bietet sich da regelrecht an. Mehr Priester bringen mehr Gläubige – so die einfache Gleichung. Dass dieses Modell wie oben beschrieben seit 60 Jahren nicht aufgeht, wird bewusst verdrängt. Aber diese einfachen Lösungen betäuben zumindest kurzfristig das fehlende Gefühl von Selbstwirksamkeit (keine Taufen, nur noch Beerdigungen und eine Austrittswahrscheinlichkeit von ca. 50% über das ganze Leben) und nötigen nicht zu einem tiefgreifenden Wandel, einer Bekehrung.
Wohin geht die Reise?
Wie bereits angesprochen, gibt es von den Zahlen her keinen Mangel in Deutschland im Verhältnis von Priestern zu aktiven Gläubigen – vorausgesetzt der Wille ist wenigstens ebenso groß, wie täglich zur Arbeit zu fahren. Es zeigt sich vielmehr die Notwendigkeit, die missionarische Verantwortung aller Gläubigen zu betonen. Priester sind dazu berufen, die Gläubigen zu unterstützen und diese in der Feier der Heiligen Messe zu versammeln – nicht, ihnen ihre Aufgaben streitig zu machen. Eine Heilung kann somit nur durch das Gegenteil des jetzigen Zustands erfolgen: Nicht Konsum und Egozentrismus, sondern wirkliche Kommunion, Mission und Hingabe. Statt einen Klerikalismus durch viri probati, Diakoninnenweihen etc. immer mehr zu fördern, muss das gemeinsame Priestertum gefördert und gefordert werden. Nicht nur Mitbestimmung und Mitreden in unzähligen Sitzungen ist angesagt, sondern Mitarbeiten und missionarisches Wirken in die Welt hinein.